Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland vor dem Hintergrund der rasanten Industrialisierung und Urbanisierung lebensreformerische Ideen, die den Folgen der technisierten, als entfremdet und naturfern empfundenen Lebenswelt der Moderne skeptisch gegenüber standen. Auf der Suche nach alternativen Lebensentwürfen sollten alle Aspekte des Alltags – Wohnen, Arbeiten, Essen, Kleiden, Heilen, Bewegen, Erziehen, Wirtschaften und Zusammenleben – im Sinne von Natürlichkeit, Gesundheit, Schönheit und Einfachheit neu ausgerichtet werden.
Die Dichte und Vielfalt der Lebensreformbewegung in Brandenburg war geprägt von der Metropole Berlin. Mit dem Ruf »Hinaus aus der Stadt« entstanden im Umland Landkommunen, Nacktkolonien, Reformschulen, Kunsthandwerkergenossenschaften, Künstlergemeinschaften, Gartenstädte und ökologisch wirtschaftende Höfe. Die Ideologien ihrer Protagonisten reichten von völkisch bis anarcho-sozialistisch, ihre Lebensweisen von komplexen Gemeinwesen bis zu eremitischen Wanderpredigern.
Heimland bei Rheinsberg: In Heimland (1909–1926), der einzigen völkischen Siedlung der Vorkriegszeit, verschmelzen lebensreformerische und völkische Ideen. Die Siedlung entsteht im Umfeld der Zeitschrift Hammer des antisemitischen Verlegers Theodor Fritsch. Sein Rezept gegen die Übel der Moderne besteht in genossenschaftlicher Bodennutzung und naturnaher Integration von Wohnen und Arbeiten mit dem Ziel einer umfassenden »Volkserneuerung«. In Fritschs Konzept einer Stadt der Zukunft von 1896 verbinden sich Ideen der Gartenstadt mit utopischen Infrastrukturideen. Die Zonung seiner Gartenstadt ist funktional und spiegelt die gesellschaftliche Schichtung der Bewohner. Von dem Plan wird in Heimland nur die ringförmige Anlage der Siedlung realisiert. 1910 richtet man ein Gästehaus ein, doch Pläne für eine Reformschule, Bibliothek und Altersheim können nicht mehr umgesetzt werden. Die Siedlung scheitert am unfruchtbaren Boden, der Entfernung von Berlin, Frauenmangel und der ökonomischen und landwirtschaftlichen Unerfahrenheit der Siedler.
Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert formiert sich im kulturellen Spannungsfeld von Berlin und Brandenburg eine Bewegung, die Alternativen zum modernen Großstadtleben sucht. Natürlichkeit, Einfachheit, Gesundheit und Schönheit sind die Leitbegriffe für diese Suche nach neuen Antworten auf die Frage, wie man Arbeiten, Wohnen, Essen, Kleiden, Heilen, Wirtschaften, Erziehen und Zusammenleben auf eine andere, naturnahe Weise gestalten kann. Zentrale Strömungen der Lebensreform sind Naturheilkunde, Vegetarismus, Siedlungs- und Nacktkulturbewegung. Sie alle hinterlassen in Brandenburg ihre Spuren und rufen hier eine Vielzahl von lebensreformerischen Initiativen ins Leben. Um Berlin herum entsteht ein Netz aus Landkommunen, Nacktkolonien Genossenschaftssiedlungen, Künstlergemeinschaften, Gartenstädten, Reformschulen und biologisch wirtschaftenden Höfen. Diese vielgestaltigen Projekte eint der Wunsch, der modernen Erfahrung von Urbanisierung und Industrialisierung mit einer neuen Bindung an Natur und Gemeinschaft zu begegnen.
Sitzende | Georg Kolbe | 1923; Bronze | Georg-Kolbe-Museum, Berlin
Karl Vanselow in Werder: Karl Vanselow ist ein lebensreformerisch orientierter Verleger, Lyriker und Aktfotograf. 1912 erwirbt er in Werder eine Villa, die vier Jahre lang der Verlagsort seiner Zeitschrift Die Schönheit wird. In deren »Garten der Schönheit« entstehen zahlreiche Freilichtakte, die Vanselow in der Zeitschrift veröffentlicht. Die Forderung nach Schönheit richtet er hier repräsentativ für die Lebensreform an alle Bereiche des neu zu gestaltenden Lebens: Neben Kleidung, Möbeln, Architektur, Tanz und Kunst betrifft das vor allem den nackten Körper. Vanselow zeigt keine sportliche Nacktheit, seine Ästhetik ist an der Antikenrezeption orientiert. Auf seinen Aktfotos verschmelzen unbefangene nackte Körper träumerisch mit dem Gartenraum. Karl Vanselow ist ein prominenter Akteur der frühen Körperkultur und Sexualreformbewegung mit unternehmerischem Gespür für den Zeitgeist. Er ruft 1905 eine private »Vereinigung für Sexualreform« ins Leben und gibt die Zeitschrift Geschlecht und Gesellschaft heraus.
Hautptsichtachse in der Ausstellung »… Lebensreform …«
ganz links: Edener Gärtner. mil Merschank bei der Rast unterm Apfelbaum | Fotografie (Reproduktion) Eden Gemeinnützige Obstbau-Siedlung e. G., Oranienburg
Der Friedrichshagener Dichterkreis: In Friedrichshagen siedelt sich 1890 eine Gruppe von Dichtern, Künstlern und Intellektuellen an, die hier Naturnähe und Gemeinschaft suchen. Den harten Kern dieserVorstadtbohème bilden Wilhelm Bölsche, Bruno Wille und die Brüder Heinrich und Julius Hart. Ihr Werk reflektiert die Dynamik von Großstadterfahrung und Naturerlebnis. Die Ausrichtung des Kreises verschiebt sich von einem sozialdemokratisch bis anarchistisch verfassten Gemeinschaftsideal zu einer pantheistischen Naturmystik. Das Naturverständnis des Kreises ist stark vom biologischen Monismus Ernst Haeckels geprägt, der alle Lebenserscheinungen in einen großen Entwicklungszusammenhang stellt. Diese Tendenzen werden unter teilweise personeller Kontinuität in der »Neuen Gemeinschaft« am Schlachtensee (1900–1903) fortgeführt. Adolf Brand und Der Eigene: In Neu-Rahnsdorf bei Friedrichshagen verlegt Adolf Brand seine Zeitschrift Der Eigene, die als die erste Schwulenzeitschrift der Welt gilt. Sie verbindet Abbildungen männlicher Akte mit literarischen Texten. Auch die Friedrichshagener Dichter schreiben für Brands Zeitschrift.
Die Ausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Potadam, stellt die Lebensreformbewegung in Brandenburg mit ihren zentralen Strömungen Naturheilkunde, Vegetarismus, Nacktkultur und Siedlungsbewegung vor. Sie erzählt in 15 Stationen von Orten und Menschen, die alternativen Lebensweisen auf unterschiedlichste Weise Raum gaben.
Mehrere Stationen in der Ausstellung.
ganz rechts: Ausatemübung: Einatmung ohne Anstrengung | (Hans Surén) | Fotografie von Gerhard Riebicke | Reproduktion aus: Hans Surén: Der Mensch und die Sonne, Stuttgart 1927
Gildenhall bei Neuruppin: Die Kunsthandwerker-Siedlung Gildenhall (1921–1929) ist ein Zusammenschluss selbstständiger Handwerksbetriebe auf genossenschaftlicher Basis. Hier leben und arbeiten Kunsthandwerker, die zum Teil von Werkbund und Bauhaus kommen. In bewusster Abkehr von industrieller Massenproduktion wollen die Gildenhaller hier Leben, Arbeiten und Wirtschaften im Sinne der Lebensreform neu gestalten. Künstler und Architekten arbeiten gemeinsam an Bauten und Inneneinrichtung. In einer Zimmerei, Töpferei, Handweberei, Nadelstickerei, Drechslerei, Tischlerei, Schmiede, Maler- und Bildhauerwerkstatt wird hochwertig, aber erschwinglich produziert. Werbung und Vertrieb organisiert eine eigene Gesellschaft. Neben den Betriebsstätten und Siedlungshäusern gehören auch eine Schule und ein Theaterbetrieb zu Gildenhall. In Gildenhall verbinden sich Genossenschafts- und Gartenstadtbewegung mit einer neuen Produktästhetik, die auf schlichte Funktionalität und Materialgerechtigkeit gerichtet ist.
Blick in die Sonderausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte.
Nacktkultur am Motzener See: Am Motzener See versammelt sich mit Beginn der 1920er Jahre die Nacktkulturbewegung mit ihren unterschiedlich ausgerichteten Vereinen. Der Freisonnland-Bund um Fedor Fuchs betreibt hier Nacktsport und etabliert einen Ausflugsbetrieb mit Gastronomie. Die Birkenheider Gruppe um den jugendbewegten Charly Strässer bietet neben einem Sportprogramm auch Gymnastik und Tanz an. Hier gibt es »Körperschulungswochen« nach Hans Surén. Der Leiter der Heeresschule für Leibesübungen in Wünsdorf ist ein Idol der Freikörperkulturbewegung. Er schreibt den Bestseller »Der Mensch und die Sonne« und macht das Lehmbad und nackte Gymnastik mit Medizinbällen und Eisenkugeln populär. Die Adolf-Koch-Schule gehört der sozialistisch-proletarischen Freikörperbewegung an und vertritt einen umfassenden Bildungsauftrag, der Hygiene, Ästhetik, Pädagogik und Sport verbindet. Die neue Körperästhetik der Nacktkultur vermittelt die zeitgenössische Aktfotografie. Herausragende Vertreter sind der Wandervogel-Fotograf Julius Groß und der mit der Koch-Schule verbundene Sport-Fotograf Gerhard Riebicke.
Die Stationen der Ausstellung:
- Die Obstbaubaukolonie Eden bei Oranienburg verband Genossenschaftssiedlung, ökologischen Landbau, Vegetarismus, Reformpädagogik, Brotreform sowie Freiland- und Freigeldwirtschaft. Sie ist die einzige noch bestehende lebensreformerische Siedlungsgenossenschaft in Deutschland.
- Die Nacktkultur-Vereine am Motzener See waren Orte naturheilkundlich inspirierter FKK-Aktivitäten, der Arbeiterbildung, Sexualaufklärung, Ernährung, Gymnastik und der neuen Körperästhetik in der Freiland-Aktfotografie.
- Der Künstler Fidus war mit seiner emphatischen Bildsprache und Ästhetik der Illustrator und Gebrauchsgrafiker der Lebensreform.
- Die Kunsthandwerker-Genossenschaft Gildenhall bei Neuruppin verband beispielhaft für die Lebensreformbewegung Wohnen, Arbeiten, Genossenschafts- und Gartenstadtbewegung.
- Der Friedrichshagener Dichterkreis war Anziehungspunkt für die literarische Moderne, und Adolf Brands Zeitschrift »Der Eigene« gilt heute als das erste Schwulenmagazin der Welt.
- Der Reformgarten von Karl Foerster in Potsdam-Bornim steht für die Gartenkunst im Sinne lebensreformerischer Naturnähe.
- Im »Garten der Schönheit« an seiner Villa in Werder machte Karl Vanselow, ein schillernder Akteur der frühen Nacktkultur- und Sexualreformbewegung, Aktaufnahmen für seine Zeitschrift »Die Schönheit«.
- In der Siedlung Heimland bei Rheinsberg sollten Ideen der Lebensreform mit Ideen der völkischen Bewegung verbunden werden.
- Die Entstehung der Marke Demeter ist verbunden mit Bad Saarow und dem Demeter-Hof Marienhöhe, einst ein Versuchsgut im Sinne der Anthroposophie Rudolf Steiners und heute der älteste biologisch-dynamisch wirtschaftende (Demeter) Hof in Deutschland.
- Die anarchischen Bohème-Siedlungen im Roten Luch/Grünhorst waren zeitweise Wohnorte von Wanderpredigern wie Gusto Gräser, Mitbegründer der Kolonie Monte Verità in Ascona, oder Max Schulze-Sölde, Christ-Revolutionär und Maler.
- Der Chirurg August Bier praktizierte erfolgreich mit naturheilkundlichen Methoden und machte sich auch als Waldreformer auf seinem Gut in Sauen einen Namen.
- Reinhold Gerling in Oranienburg steht mit seiner Zeitschrift »Der Naturarzt« und seinen Leitfäden zur lebensreformerischen Körperpflege und -ertüchtigung für die boomende zeitgenössische Ratgeberliteratur.
- Gustav Nagel provozierte die Bürgerlichkeit als Wanderprophet und mit seinem Leben im selbst geschaffenen Paradiesgarten in Arendsee.
- Die Wandervogelbewegung nahm ihren Ausgang in Berlin und Brandenburg und avancierte in der Weimarer Republik zur größten Jugendbewegung.
- Als Volksschullehrer in Tiefensee entwickelte Adolf Reichwein, 1933 aus politischen Gründen als Akademie-Professor entlassen, ein reformpädagogisches Unterrichtsmodell und führte den Film als Unterrichtsmittel ein.
Adolf Reichwein in Tiefensee: Adolf Reichwein wird nach einer erfolgreichen Karriere in der Arbeiter- und Erwachsenenbildung und als Ministerialbeamter im preußischen Kultusministerium 1933 in die einklassige Dorfschule in Tiefensee versetzt, wo er bis 1939 als Lehrer wirkt. Hier entwickelt er ein reformpädagogisches Unterrichtsmodell, das auf Projektunterricht, lebensnahes, anschauliches und praktisches Lernen setzt. Er führt den Ganztagsunterricht und das Fach Werken ein und integriert den Schulbetrieb in das bäuerliche Dorfleben. Seine Tiefenseer Erfahrungen schreibt er 1937 in Schaffendes Schulvolk nieder, das ein Standardwerk der Reformpädagogik werden soll. Daneben ist Reichwein ein Pionier des Einsatzes von Film im Unterricht. 1934 wird die Dorfschule zur offiziellen Versuchsschule der neugeschaffenen »Reichsstelle für den Unterrichtsfilm«. Im Schattenkabinett des oppositionellen Kreisauer Kreises ist Reichwein für den Posten des Bildungs- und Kulturministers vorgesehen. Im Oktober 1944 wird er in Plötzensee hingerichtet.
August Bier in Sauen Der Chirurg August Bier tritt in seiner ärztlichen Praxis für Homöopathie und die Behandlung mit »Hyperämie« ein – die lokale Durchblutungssteigerung in kranken Körperteilen durch Stauung oder durch Hitze. Entzündung und Fieber werden zu Heilzwecken angewandt. Auch in der Behandlung von Knochentuberkulose setzt er auf naturheilkundliche Verfahren, die Licht, Luft, Bewegung und Diät als natürliche Heilreize nutzen, und zieht sich damit die Kritik der etablierten Schulmedizin zu. Bier versteht sich auch als Philosoph. Sein der Antike verpflichtetes Denken beruht auf einem ganzheitlichen Weltbild des ständigen Wechsels und der Harmonie. Grundannahme seiner Medizin ist die natürliche Regenerationsfähigkeit des Organismus. Diese gilt gleichermaßen für Biers Sicht auf den Wald. Auf seinem Gut in Sauen wird er zum Waldreformer. Kiefernmonokulturen sollen wieder zu regionaltypischen Misch- und Dauerwäldern werden. Nicht forstwirtschaftliche Effizienz ist für Bier maßgeblich, sondern harmonische Pflanzennachbarschaften, Klimaverbesserung und Artenreichtum.
Reinhold Gerling in Oranienburg Reinhold Gerling ist ein überaus produktiver lebensreformerischer Publizist. In seinen Vorträgen und Büchern vereint er die Ideen der unterschiedlichen Strömungen der Lebensreform. Er schreibt über Gesundheit, Ernährung, Gymnastik, Massage, Kleidung, Ehe und Kosmetik. Zeitweise ist er der Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Der Naturarzt. Darüber hinaus setzt er sich wie Adolf Brand bei Friedrichshagen für die Entkriminalisierung der Homosexualität ein. Gerlings Werk ist ein Beispiel für die weitverbreitete Ratgeberliteratur der Zeit zu allen Gebieten der Lebensreform. Sein Interesse gilt der Praxis eines lebensreformerisch durchgestalteten Alltags. In diesem Sinne verfasst er abbildungsreiche Anleitungen, die von Atemübungen und Artikulation bis zu Hypnose und Willensstärkung reichen. Sein Werk dokumentiert die Neuentdeckung des Körpers in der Lebensreform. In der Befreiung, Pflege, Ertüchtigung und Formung des Körpers verbinden sich die zentralen Forderungen nach Natürlichkeit, Schönheit und Gesundheit.
»In uns schlummert die Kraft des Lebens und der Erlösung« Reinhold Gerling
Der Wandervogel in Brandenburg: Brandenburg ist das Stammland des Wandervogels. Hier liegen die Ausflugsziele des 1901 in Steglitz als »Ausschuss für Schülerfahrten« gegründeten ersten Vereins. Schnell entsteht eine Vielzahl von Bünden, Vereinen und Ortsgruppen auch in Brandenburg selbst, die sich in ihrer ideologischen Ausrichtung unterscheiden können. Gemeinsam ist den Gruppen der Wunsch, beim ländlichen Wandern eine neue Einfachheit, Naturnähe und Gemeinschaft zu erleben. Der Wandervogel will eine eigenständige Jugendkultur schaffen, in der alternative Lebensmodelle erprobt werden. Sein Leitbild ist eine idealisierte Volkskultur. Die Ideen von Ernährungs- und Kleidungsreform, von Alkohol- und Nikotinabstinenz werden vom Wandervogel aufgegriffen. Identitätsstiftend wirken eigene Riten, Trachten, Lieder, Fahnen, Abzeichen, Ausweise und Mitteilungsblätter. Es wird gewandert, gesungen, musiziert, getanzt, gefeiert und auch viel fotografiert. »Nestbücher« und Alben, die zahlreich geführt werden, legen davon Zeugnis ab.
Rotes Luch/Grünhorst: Im Roten Luch gibt es in den 1920er und 30er Jahren drei Siedlungsexperimente. 1920 zieht der anarchistische Berliner Gynäkologe Dr. Heinrich Goldberg mit seiner Kommune in eine Höhle, die »Kaverna di Zaratustra«. Sich selbst nennt der von Nietzsche begeisterte Esperantist »Filareto Kavernido«. Hier wird eine Gesellschaftserneuerung auf der Basis von Besitzlosigkeit und freier Liebe modellhaft erprobt. Nach dem Abzug der Filareto-Kommune nach Frankreich versucht der Maler und Anarchist Artur Streiter ab 1926 vergeblich, Gleichgesinnte für seine spartanische Lebensreform-Siedlung zu werben. 1930 gründen Gusto Gräsers Tochter Gertrud und der Schriftsteller Hugo Hertwig die Siedlung »Grünhorst« und betreiben bis 1936 biologische Landwirtschaft. Zu ihnen stößt der Christ-Revolutionär und Maler Max Schulze-Sölde, der hier seinen »Orden vom Sonnenkreuz« zu etablieren versucht. Zu den zeitweiligen Bewohnern gehört auch Gusto Gräser, der als Wanderprediger und Mitbegründer der Kolonie Monte Verità eine Identifikationsfigur der Lebensreformbewegung wird.
Mit Fotografien, Gemälden, Graphiken, Büchern und Zeitschriften, Gebrauchsgegenständen, Kunsthandwerk und Filmen illustriert die Ausstellung das vielfältige weltanschauliche, ästhetische und alltagspraktische Repertoire der Lebensreformbewegung in Brandenburg.
»Lust ins Land« Gusto Gräser
rechts: Vom Korsett deformierter und natürlicher Körper | Tiefenatmung | Waschung und Abreibung | Reproduktionen aus: Reinhold Gerling, Der vollendete Mensch, Berlin 1906 Augengymnastik Reproduktion aus: Reinhold Gerling, Körper und Schönheitspflege, Berlin o. J.
»Film als Organ ganzheitlichen Unterrichts« Adolf Reichwein
Gustav Nagel am Arendsee: Gustav Nagel nennt sich selbst »Wanderprediger und Tempelwächter vom Arendsee«. Früh kommt er mit der Naturheilkunde in Berührung, bricht daraufhin seine Kaufmannslehre ab und schlägt einen radikal unkonventionellen Lebensweg ein. Mit seiner Lebensweise sucht er neue Antworten auf die Fragen nach Besitz, Beruf, Kleidung, Ernährung und Sesshaftigkeit. Auf seiner Wanderschaft, die ihn bis nach Jerusalem führt, propagiert er mit Vorträgen und Traktaten sein lebensreformerisches Ideal von Bedürfnislosigkeit, Natürlichkeit und Gesundheit. Vor allem aber lebt er es vor, indem er barfuß und so nackt wie möglich, vegetarisch und alkoholfrei durch die Lande zieht. Für Nagel sind naturgemäße und gottgefällige Lebensweise eins. In seiner Heimat am Arendsee in der Altmark baut der »Tempelwächter« 1910 am Seeufer seinen Paradiesgarten mit Tempel, Seegrotte und einer schlichten Wohnhütte. Sein Anwesen entwickelt sich zu einem Publikumsmagneten. Daneben war er Reichstagskandidat, Dichter und mit seiner phonetischen Schreibweise auch Rechtschreibreformer.
Infos zur Ausstellung
»Einfach. Natürlich. Leben. – Lebensreform in Brandenburg 1890–1939«
Haus der Brandenburisch-Preußischen Geschichte, Potsdam (HBPG)
10.7.2015–22.11.2015, Kutschstall, Am Neuen Markt 9, Potsdam
Kuratorin: Dr. Christiane Barz
Ausstellungsarchitektur: torhaus architekten + gestalter, Enrico Oliver Nowka, Claudia Wiesner
Ausstellungsgrafik sowie Werbegrafik: Ulrich Lange, Helmut Stabe, VIERZIG A, Dessau
Ausstellungsbau: Bernd Prelop, Bad Muskau
Objekteinrichtung: Zehnpfennig und Weber GbR, Berlin; Carsten Musolf, Benjamin Genz
Beleuchtung: Carsten Musolf